Ein Fitnesstracker sollte es werden. Mich interessieren allerdings weder Schritte, noch Stockwerke oder Schwimmen. Ich fahre Fahrrad, was Komoot trackt. Was mir aber noch fehlt: Herzfrequenz! Bitte auch wasserdicht und gerne mit GPS. Nach einiger Recherche komme ich beim vívosmart HR+ an, der angeblich zu den genausten Handgelenkmessern gehört und für etwa 120 Euro verkauft wird.
Das Gerät
Der HR+ beherrscht: Tracken von Gehen, Laufen, Cardio und "sonstigen" Sportarten, Routentracking per GPS, ständige Herzfrequenzmessung am Handgelenk, ständiges Schritte zählen und Stockwerke zählen, Inaktivitätsangepöble, Wecker per Vibration, Kalorienberechnung (Grund- und Leistungsumsatz), Wetterbericht, Darstellung der Notifications des Telefons, Musiksteuerung (der Musik des Telefons) und "Move IQ", eine Funktion, mit der das Gerät theoretisch Dinge wie ein Lauftraining magisch erkennen kann, ohne dass man eines der Tracking-Programme starten muss.
Etwas klobig kommt es daher und das glatte Gerät will nicht ganz zum gerasterten Armband passen. Insgesamt gewöhnt man sich allerdings schnell daran. Die Plastikabdeckung des Displays ist eher weich und sehr anfällig für Kratzer. Genauer gesagt war bei mir bereits am ersten Tag das halbe Display zerkratzt und ich bestellte mir Displayschutzfolien (Garmin bot an, mir ein neues Gerät zuzusenden).
Ersteindruck: Die Software
Die Einrichtung funktioniert ok, die schlampige Softwarequalität von Garmin scheint allerdings überall durch. Es wirkt sehr lieblos und strahlt mit dem dunkelgrauen Look eine beeindruckende Tristesse aus, gerade auch im direkten Vergleich z.B. zum fröhlichen Lifesum:
Die Verbindung zwischen Telefon (Garmin Connect-App) funktioniert per Bluetooth. Notifications und Musiksteuerung funktionieren nur bei dauerhaft verbundenen Geräten, ebenso der automatische Sync der aufgezeichneten Daten. Wer Akkuzeit sparen möchte verzichtet darauf und synchronisiert täglich oder wöchentlich einmalig. Das funktioniert passabel, häufig findet der HR+ aber die App nicht oder es werden nur Teile der Daten synchronisiert (der Wetterbericht hängt dann tagelang auf alten Daten fest). Ein Abschießen und Neustarten der App behebt das Problem (welches ich niemals mit Nokia Health und deren Pulse Ox hatte).
Die deutsche Version der App und auch der Software des HR+ sind gespickt mit Rechtschreibfehlern und falschen Übersetzungen ("Levels" als "Einstellungen"). Zudem neigt Garmin dazu, absonderliche Abkürzungen zu verwenden. "Tägl. hochzust. St." soll z.B. "Täglich hochzusteigende Stockwerke" bedeuten.
Die Garmin Connect-App synchronisiert sich schreibenderweise mit Apple Health und mit der Garmin Connect-Website. Diese wiederum kann mit MyFitnessPal für einen Kalorienabgleich gekoppelt werden. Wer andere Apps verwendet hat Pech: Garmin liest dessen Ernährungsdaten oder auch andere Werte wie das Gewicht, die in Apple Health liegen, nicht aus.
Ersteindruck: Herzfrequenz und Tracking
Der Ersteindruck ist positiv. Gehen, Stockwerke und Rad fahren werden sauber erkannt und im Tagesverlauf protokolliert, parallel zur dauerhaft erfassten Herzfrequenz. Da man die eigene Schrittlänge einstellen kann ist auch die Distanz eine recht genaue Angabe. Auf Basis aller Daten werden die täglich verbrauchten Kalorien ausgerechnet und bei Erreichen eines Tagesziels, welches die Software eigenständig erhöht oder verringert, damit man am Ball bleibt, erscheint ein kleines Feuerwerk. Ein solides Gesamtpaket, dessen Teufel leider im Detail steckt, wie ich nach mehreren Monaten mit dem Gerät feststellen kann.
Zweiteindruck: Herzfrequenz
Die Herzfrequenz wird dauerhaft gemessen. Die Messung liegt häufig leider stark daneben, z.B. wenn die Uhr durch Kleidung verrutscht oder sich zwischen Uhr und Haut etwas Feuchtigkeit ansammelt. Die Messung ist also beim Schwimmen, Regen oder wenn man schwitzt sehr ungenau und zeigt z.B. statt 80 Schlägen 148 an oder statt 130 40. Der Bereich, in dem das Gerät vertrauensvoll misst, ist folglich gering: Schlafen, Büro, Rad fahren bei unter 20 Grad. Dass ein Fitnesstracker beim Ausführen von Sport durch den damit verbundenen Schweiß die Herzfrequenz nicht mehr korrekt messen kann klingt wie ein schlechter Scherz, ist hier aber leider so.
Schweiß hat zudem noch einen weiteren Effekt: Wer die Uhr eng trägt, was für die Herzfrequenzmessung erforderlich ist, kann einen Ausschlag entwickeln. Nach drei Tagen mit je 9h Rad fahren war meine Haut rot und brauchte zwei Wochen (!) zur Erholung.
Zweiteindruck: Schritte
Schritte werden solide erkannt. Wie bei allen Bewegungsformen, die das Gerät auf Basis der Gerätebewegungen automatisch erkennt (bzw. errät) gibt es eine gewisse Ungenauigkeit. Abwaschen wird z.B. ebenfalls als Gehen oder Laufen erkannt, ebenso das "Abrubbeln" von Klebstoff mit einem Tuch.
Zweiteindruck: Stockwerke
Auch die Stockwerke werden solide erkannt, bis man auf einmal beim morgendlichen Haare kämmen eine Vibration verspürt und auf dem Display ein Feuerwerk entdeckt: Tagesziel Stockwerke erreicht! Durch Haare kämmen.
Zweiteindruck: Schlaftracking
In den Einstellungen kann eine Schlafenszeit definiert werden. In dieser versucht das HR+ auf Basis der Bewegungen zu erkennen, ob man schläft oder nicht. Im direkten Vergleich mit Withings Pulse Ox sind die Werte ähnlich (Garmin oben, Withings unten, beide Geräte am selben Arm getragen):
Beide Geräte haben nahezu dieselbe Zubettgehzeit und Aufwachzeit ermittelt, was beeindruckend ist, da der HR+ das automatisch erkennt, ich beim Pulse Ox Start und Ende dagegen manuell am Gerät setzen muss. Auch die Schlafdauer ist identisch und es gibt nur leichte Abweichungen bei der Interpretation von leichtem und tiefem Schlaf.
Die auf Bewegung basierende Magie hat allerdings deutliche Grenzen. Wer bewegungslos im Bett eine Stunde am iPhone das Internet leer liest wird als schlafend betrachtet. Gut sieht man das an folgender Auswertung. Normalerweise gehe ich So-Mo gegen 22:30 ins Bett und stehe irgendwann zwischen 6:00 und 7:00 auf. In diesem Fall war ich allerdings erst 23:30 Zuhause, war danach am Rechner und erst gegen 1:00 im Bett. Das Laufen zur Wohnung wurde noch nicht als Schlaf interpretiert, aber das Sitzen am Rechner ab 23:54 und das anschließende Herumlaufen in der Wohnung mit Zähneputzen ab 0:24 wurden eine Kombination aus "wach" und "leichter Schlaf". Insgesamt habe ich laut Gerät also 70 Minuten mehr Zeit schlafend bzw. im Bett verbracht als in der Realität.
Ungenau werden Messungen am Freitag und Samstag zusätzlich dadurch, dass für Wochenenden keinen alternativen Zubettgehzeiten definiert werden können.
Im Verlauf der Monate offenbarten sich immer stärker die Schwächen der Schlaferkennung: Playstation spielen, Fernsehen schauen, lesen, am Computer arbeiten, telefonieren: Alles resultiert in Abweichungen von teils mehreren Stunden. Wenn ich nach fünf Stunden Schlaf müde im Büro sitze zeigt Garmin fröhlich über acht Stunden Schlaf an und verkündet: Ziel erreicht! Diese Fehlmessungen können zwar nachträglich korrigiert werden, aber ich möchte nicht täglich meine Zeit mit Datenkorrekturen verbringen.
Zweiteindruck: Kalorien
Auf Basis der aufgezeichneten Daten wird der Grund- und Leistungsumsatz berechnet und fortlaufend angezeigt. Wer gar keine Ahnung von Ernährung hat erhält hier eine sehr hilfreiche Unterstützung.
Wenn ich meinen Umsatz manuell nach der Mifflin-St. Jeor-Formel und mit bis zu drei Tagen Sport pro Woche berechne (Faktor 1,375) kommt dort als Durchschnittswert 2851 heraus. Verwende ich den Rechner von jumk lande ich bei 2683 für eine Woche ohne Sport und 3578 mit 3-4h Sport (Faktor 1,6). Auch dies sind Durchschnittswerte.
Garmin berechnet die Kalorien tagesweise und kommt auf:
- 2400 Kalorien für einen Couchtag
- 2850 Kcal für einen Arbeitstag ohne Fahrrad
- 3600 Kcal für einen Arbeitstag mit 80 Minuten Rad fahren
Das entspricht derart exakt der manuellen Ermittlung, dass man sich diese Werte mit etwas Nachdenken also auch alleine ausrechnen kann.
Zweiteindruck: GPS
Wer vom Smartphone gewohnt ist, dass dieses immer und sofort seinen Standort kennt, lernt mit dem Garmin-Gerät, wie reines GPS funktioniert. Ohne AGPS, also Unterstützung des Telefonnetzes, ohne Wifi-Datenbanken und ohne alternative Standortdienste wie GLONASS ist der Vívosmart auf sich alleine gestellt und das Erfassen des aktuellen Standorts kann durchaus länger als fünf Minuten dauern, womit die Funktion ziemlich sinnlos ist und der kleinere vívosmart HR für mich der sinnvollere Kauf gewesen wäre.
Schlaue Fitnesstracker wie z.B. das Steel HR von Nokia oder A370 von Polar holen sich deshalb per Bluetooth Lokalisierungshilfe vom Smartphone ab.
Zweiteindruck: Move IQ
Mit Move IQ wird versucht, auf Basis der Gerätebewegung automatisch längere Aktivitäten zu erkennen, z.B. ein Lauftraining, welches man nicht direkt als Trainingsaufnahme gestartet hat. Im folgenden Screenshot sieht man z.B. 12 Minuten gehen am Stück, welche automatisch erkannt wurden:
Auch wenn das Gerät keine manuell gestarteten Rad-Trainings erkennt: Automatisch klappt das! Ein Tag mit diesen automatisch erkannten Aktivitäten sieht dann so aus:
Gut sieht man den automatisch erkannten Schlaf, die Messlücken durch das Aufladen, längere Fußwege und die kurze Fahrradfahrt.
Über die Website sind solche Move IQ-Ereignisse nicht über den Kalender, sondern die Tagesübersicht zugänglich. Diese führt allerdings in der URL ein lesbares Datum mit, sodass man durch Ändern der URL zu anderen Monaten springen kann, ohne sich durch jeden einzelnen Tag klicken zu müssen. In der Smartphone-App zeigt der Kalender dagegen auch die Move IQ-Ereignisse mit an, sowohl in der Monatsansicht als auch in der Tagesansicht:
In den Aktivitäten erscheinen Move IQ-Ereignisse nicht. Wer also täglich zur Arbeit und zurück radelt bekommt in der Tagesübersicht das Rad fahren angezeigt und die Kalorien entsprechend berechnet, hat aber keine Aktivitäten gesammelt. Das ist ein großes Versäumnis der Software. Auch lassen sich über Move IQ-Ereignisse auf der Website keine Berichte und Dashboards erstellen. Das Konzept scheint hier zumindest auf Auswertungsebene der gesammelten Daten noch nicht zuende gedacht und ist momentan eher ein Gimmick.
Das Ganze funktioniert übrigens ohne GPS und nur auf Basis der gemessenen Handgelenk-Bewegungen und sonstigen Erschütterungen, also auch mit den günstigeren Garmin-Geräten wie dem vívofit 3 für 70 Euro.
Garmin ist mit der automatischen Erkennung freilich nicht alleine: Bei Nokia heißt die vergleichbare Funktion "Connected Movement", erkennt aber Rad fahren erst nach manuellem Anlernen. Bei Fitbit nennt es sich "SmartTrack". Bei Polar funktioniert es ein bisschen anders: Es wird die Aktivitätsintensität ständig erfasst und in fünf Bereiche eingeteilt, eine Erkennung der Art der Aktivität findet aber nicht statt (oder ich konnte es nicht finden). Man könnte damit argumentieren, dass auch nur die Intensität relevant ist, aber für's Auge hätte ich schon gerne eine Unterscheidung zwischen Gehen, Laufen, Rad fahren und Schwimmen ;).
Fazit
Der Vívosmart HR+ sollte als dauerhaft getragene Gesundheitswanze dienen und meine Gesundheitsdaten und Aktivitäten protokollieren. Als mittelfristiges Ziel wollte ich Abweichungen meines Ruhepulses feststellen können. Rückblickend betrachtet versagt das Gerät hierbei. Das Gerät selber ist zu ungenau in seinen Messungen, als dass die Ergebnisse belastbar wären. Erstaunlicherweise ist Rad fahren die einzige Aktivität, die vollkommen fehlerfrei erfasst wird. Umso schmerzhafter sind die Designentscheidungen und Fehler innerhalb der Software, z.B. die fehlende Berücksichtigung von MoveIQ-Ereignissen in der Aktivitätshistorie. Die Möglichkeit, die Herzfrequenz und Trainingsdaten mit anderen Gesundheitsapps auswerten zu können ist bestechend, verliert allerdings angesichts der Ungenauigkeit der Herzfrequenzmessung gerade bei Trainings ihren Reiz. Es verbleibt eine Funktion, die ich in den zwei Wochen ohne Gerät schmerzlich vermisst habe: Die Uhrzeit.