Inhaberschaft dieses Ausweises berechtigt dazu, sich seines Verstandes zu bedienen, Informationen zu produzieren, replizieren und konsumieren, sich frei und ohne Kontrolle zu entfalten in Privatsphäre und Öffentlichkeit. Behinderung dieser Rechte wird geahndet durch die Piratenpartei Deutschland.
Rückentext des Mitgliedsausweises
Gestern stolperte ich über die Mitgliederbewegung der Berliner Piratenpartei, bei der ich bis Ende 2013 Mitglied war:
- September 2012 3.799 Mitglieder
- Seitdem auf 2.765 geschrumpft
- Vor kurzem wurden die lange nicht zahlenden "Mitglieder" entfernt: Satte 1.753.
- Jetzt sind in Berlin noch 999 Mitglieder übrig, von denen nur 315 stimmberechtigt sind (also ihren Beitrag bezahlt haben)
Ein Blick auf die im Wiki vergrabenen Ein- und Austrittsbewegungen zeigt recht deutlich, dass ab Herbst 2012 eine drastische Veränderung eingetreten ist: Eine plötzliche Steigerung der Austritte, die danach konstant auf diesem höheren Niveau blieben und ein sehr starkes Absinken der Neueintritte (bzw. ein Ausbleiben von Eintrittsspitzen). Kurz gesagt: Die geringe Anzahl der Neueintritte konnte die Austritte nicht mehr kompensieren.
Was war Ende 2012 los? Als Recherche lese ich jetzt das sehr empfehlenswerte Buch von Christopher Lauer und Sascha Lobo und kann bei so unglaublich vielen genannten Punkten immer nur wieder zustimmend nicken:
Das Politikbild und Politikverständnis der Piraten war tendenziell durch Nachrichten oder Satire über Politik geprägt.
Die Piraten imitierten in ihrem Auftreten und Verhalten von Beginn an andere Parteien, ohne genau zu wissen, was sie da taten.
Der spätere Bruch deutete sich bereits damals an, aber 2009 war die Piratenpartei fast ausschließlich eine politische Projektionsfläche, die bis etwa Mitte 2012 überraschend gut funktionierte. Diese hochemotionale Projektionsfläche bestand aus drei recht diffusen Komponenten:
• dem Gefühl eines digitalen Aufbruchs
• dem Wunsch nach Mitbestimmung per Internet
• der Ablehnung traditioneller Politik
Das, was sich im Herbst 2009 als „Basisdemokratie“ in der Piratenpartei herausbildete, war hauptverantwortlich für die Zermürbung. Eigentlich passt der klassische Begriff Basisdemokratie nur eingeschränkt auf das, was in der Piratenpartei zelebriert wurde. Treffender wäre „situative Schwarmherrschaft“, um die fehlende Struktur deutlicher werden zu lassen, die tendenziell undemokratische, spontan verfestigte Haltung und die Skepsis gegenüber Funktionären, die nicht als Teil des Schwarms begriffen wurden.
Es stellte sich für mich zügig heraus, dass die Piraten sich durch zu viele und häufig unpassende Kommunikationswerkzeuge, dem Mangel zur Bildung von Strukturen und der daraus resultierenden Unfähigkeit, Mitglieder einzubinden, zu informieren und auf Ebene der Bundespartei her Themen zu definieren sehr im Weg stand und dies als Vorteil wahr nahm.
- Man ist anders als die anderen.
- Man ist nichts links oder rechts, sondern Vorne.
- Der Vorstand soll nur Hausmeistertätigkeiten absolvieren.
- Themen statt Köpfe.
Es dauerte auch einige Zeit, bis die Begeisterung über die Möglichkeit, dass "jeder" an den Parteitagen teilnehmen konnte bei mir umschwenkte und ich die Parteitage als Problem wahr nahm, denn es konnten nur die Personen mit Zeit und Geld teilnehmen. Außerdem war ich regelrecht entsetzt über die Vorbereitung der an Parteitagen teilnehmenden Piraten. Gänzlich ohne Kenntnis des Abstimmthemas wurden Kärtchen gehoben, weil der Kumpel oder die Tischgruppe das auch so macht oder die Präsentation schlecht war (der Inhalt aber gut). Wenn Martin Sonneborn verzweifelt über das EU-Parlament schreibt, die Abstimmabfolge wäre so schnell, dass nicht nur er einfach abwechselnd ja und nein stimme - egal zu welchem Thema - dann war das nicht sehr unterschiedlich zu Parteitagen der Piraten.
Mir ist dabei bewusst geworden, dass das alles keine politische Arbeit sein kann. Wer zu einem Parteitag fährt und dort ohne Kenntnis der Themen abstimmt hat auf einem Parteitag nichts zu suchen und beleidigt zudem die Personen, die Themen vorbereitet oder sich unter hohen Zeiteinsatz eingelesen haben. Dummerweise verweigerte sich die Partei, alternative Ansätze zu einem solchen Parteitag zu etablieren (z.B. Liquid Feedback).
Trotz mangelnder Strukturen, mangelnder Fähigkeit zur Zusammenarbeit, mangelnder Fähigkeit zur Findung gemeinsamer Ziele und vor allem mangelnder inhaltlicher Arbeit konnte die "Basis" stets gut pöbeln und damit über Mailinglisten und soziale Netzwerke zumeist negativen Druck aufbauen, dem kein Einhalt geboten wurde.
Der Ekel vor diesem Verhalten hatte bei mir dazu geführt, alle Piraten aus all meinen Timelines zu entfernen, Piraten in Twitter-Listen zu verstecken und automatisch sämtliche Gate-Hashtags zu muten, damit ich diesen Hass nicht mehr ständig lesen muss. Das war Ende 2012, ein Jahr vor meinem Austritt. Die Mailinglisten hatte ich nach kurzer Zeit fluchtartig verlassen - aus denselben Gründen.
Betrachtet man die Umfrageergebnisse, entsteht der Eindruck, dass der Niedergang der Piraten Mitte 2012 begann.
Wer antritt, um das Urheberrecht im Netz zu revolutionieren und sich beim ersten, größeren Gegenwind derart unbedarft anstellt, dem traut man einfach nicht zu, im politischen Geschäft erfolgreich zu sein – egal auf welchem Gebiet.
Unabhängig davon, ob man Johannes Ponaders politische Arbeit schätzt oder nicht, muss man seine Wirkung im Kontext der dysfunktionalen Parteistrukturen betrachten. Ponader lässt sich auch als Stresstest verstehen, wie die Partei und ihr Vorstand mit einem weitgehend inkompatiblen Funktionsträger umgeht und umgehen konnte. Die Piratenpartei hat diesen Test aus wirklich jeder Perspektive nicht bestanden.
2012 war das Entscheidungsjahr der Piraten. Es wurde auch für die Öffentlichkeit sichtbar, dass es hier seit langem schwelende Probleme gab, die jetzt aufbrachen, da sie in der Vergangenheit nicht bearbeitet wurden. Fehlende Hierarchien, mangelnde Diskussionskultur, ein der Satzung widersprechendes und meist ungeahndetes Verhalten der Mitglieder, der Ersatz von Marina Weisband durch Johannes Ponader, eine groteske Debatte um das Urheberrecht und das Buch von Julia Schramm vermischten sich zu einem diffusen "wir haben verkackt"- und "was ist jetzt schon wieder schief gelaufen?"-Gefühl. Gleichzeitig funktionierte aber die Arbeit der Berliner Piraten im Abgeordnetenhaus sehr gut.
In mir entstand der Eindruck, dass sich die Bundespiraten zerlegen, während in Berlin Politik gemacht wurde. Die negative Rolle einzelner Berliner Piraten in 2012 wird im Buch ebenfalls gut herausgearbeitet, sodass aus einer Außerhalb-von-Berlin-Perspektive der Eindruck entstehen musste, dass die gesamte Partei und alle Landesverbände nichts auf die Reihe bekam, sich nur mit sich selber beschäftigte, man das nicht mehr mittragen möchte und austrat (und sie natürlich erst recht nicht mehr wählte).
Mitte 2013 verpasste die Partei die Chance, eine ständige Mitgliederversammlung einzuführen und entschied sich stattdessen für den groteskten BEO. Da war mir klar: Das wird nichts mehr. Es ist nicht gewünscht, dass politische Themen innerhalb der Partei diskutiert und außerhalb von Parteitagen (somit dezentral und zeitlich unabhängig) verbindlich beschlossen werden können. Da die regelmäßige Zerlegung der Führungsriege dazu führte, dass die Parteitage meist Wahlparteitage und keine Programmparteitage waren, konnte keine programmatische Entwicklung stattfinden, weil die Zeit dafür fehlte.
War da noch etwas 2013? Oh, Snowden! Was machten die Piraten mit diesem für sie so passenden Thema, zumal im Herbst 2013 die Bundestagswahl stattfinden sollte? Die Lauer-Perspektive aus dem Buch hierzu:
Im gesamten weiteren Verlauf des ständig eskalierenden Überwachungsskandals spielten die Piraten überhaupt keine mediale Rolle. Die fehlenden Strukturen machten es zu mühsam, in diesem Moment eine konzentrierte Pressearbeit zu leisten. Die fehlenden Spitzenkandidaten bedeuteten, dass es keine Ansprechpartner für die Medien gab.
Die ausgebliebene Bundestagswahlkampagne bedeutete, dass die Piraten in der Öffentlichkeit einfach null präsent waren. Das alles wurde verstärkt durch die Bocklosigkeit und den Unwillen vieler Piraten, für die eigene, zerstrittene Partei einzustehen oder zu arbeiten. Die Südpiraten wollten nichts mit den in ihren Augen linksradikalen Berliner Piraten zu tun haben, die eher linksorientierten Nordpiraten wollten nicht für die Perspektive arbeiten, Menschen wie Sebastian Nerz in den nächsten deutschen Bundestag zu befördern. Auf Twitter haben sich eh alle gegenseitig beschimpft, was das Bild der total zerstrittenen Partei im Dauerzustand der Selbstbeschäftigung zementierte. All diese Faktoren potenzierten sich gegenseitig und machten die Piraten in den Augen vieler noch vor wenigen Monaten wohlwollender Beobachter schließlich vollkommen unwählbar.
Ich beschloss, der Partei noch eine Chance zu geben und den Parteitag Ende 2013 abzuwarten. Die Ergebnisse waren erschütternd: Wahlparteitag, kaum politische Weiterentwicklung, Satzungskorrekturen, gar keine Aufarbeitung des miserablen Wahlergebnisses.
Also trat ich aus.
Und danach? #bombergate #orgastreik #keinhandschlag #reclaimyournetzpartei, erzwungener Wahlparteitag durch Rücktritt der dann wieder kandidierenden Personen, Christopher Lauer schließt ab und das Personal, dass die einzigen politischen Erfolge der Piraten vorweisen kann, verlässt die Partei.
Der über allem schwebende Grund für das Scheitern der Piraten aber war – die Abwesenheit einer inhaltlichen Vision und die Abwesenheit des Personals, das diese Vision hätte transportieren können. Stattdessen gab es nur eine technische Vision, Mitmachen per Internet, und die ablehnende Haltung gegen Piratenfunktionäre. Alle anderen Probleme, von fehlenden Strukturen über latente rechte und sexistische Überzeugungen bis zu den verbalen Hackfleischunfällen in den sozialen Medien ergaben sich aus diesem Metaproblem. Das ist auch der Grund, weshalb der Weg der Piraten Ende 2014 Richtung Sackgasse führt: in der Partei verblieben und weiter engagiert sind mit wenigen Ausnahmen diejenigen, denen Visionen ähnlich sinnvoll erscheinen wie Helmut Schmidt.
Mittlerweile ist der Herbst 2015 erreicht. Es gibt weiterhin keine ständige Mitgliederversammlung und Liquid Feedback als Implementierung von Liquid Democracy wurde abgeschaltet. Der unverbindliche BEO ist mittlerweile online. Es gibt im BEO einen Antrag, die Piratenpartei als sozialliberale Partei zu bezeichnen. Wie es scheint, hängt die Partei noch immer im Richtungsstreit fest und schafft es nicht, aus den bislang beschlossenen Positionen, Programmpunkten und ihrer eigenen Satzung eine politische Richtung/Vision abzuleiten (es wird also weiterhin diskutiert, ob 2+2=4 ist). Die strukturellen Probleme sind immer noch vorhanden. Die Diskussionen stecken im Jahr 2011 fest.
Übrig bleibt nur die grandiose Julia Reda.